13 Maerz 2006 - Quezaltenango, Guatemala



Halo Freunde

Seit nun schon zwei Wochen befinde ich mich in Quezaltenango, Guatemala. Vor einem Jahr lernte ich Severine, eine Franzoesin kennen, die hier in der Stadt als Direktorin eines Franzoesisch-Institut arbeitet. Sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen, wo ich mich nun fuer eine laengere Pause eingerichtet habe. Sie stellt mir ihre Wohnung und einen Computer zur Verfuegung. So habe ich mir zusammen mit meinem Bruder Stefan waehrend den letzten zwei Wochen die Zeit genommen, meine Erlebnisse, Erfahrungen und Fotos zu sammeln, zusammenzustellen und als Internetseite zu praesentieren. Vor euch habt ihr nun das Ergebnis unsrere Arbeit – die Seite von schneckentempo.ch.

An dieser Stelle moechte ich mich ganz ganz herzlich bei meinem Bruder Stefan bedanken! Zwei Wochen hast du tags und vor allem nachts fuer diese Internetseite gearbeitet. Dein Einsatz ist grossartig! Merci Waewu!

Zu erzaehlen gibt es von den vergangenen zwei Wochen dementsprechend wenig. Ich schloss mich in einem geraeumigen Zimmer ein, setzte mich vor den Compi, schrieb, suchte, korrigierte und stellte meine Berichte und Fotos zusammen. Es war herrlich, die vergangenen 2 1/2 Jahre so Revue passieren zu lassen.

Quezaltenango ist die zweitgroesste Stadt Guatemalas, einem Land, das bis vor Jahren noch in einen schrecklichen Buergerkrieg verwickelt war. Heute, 10 Jahre spaeter, hoere und spuere ich immer noch dessen Folgen und Auswirkungen.

Text? In der Hauptstadt kam ich bei Marisol unter, einer Kollegin vom hospitalityclub.org. Sie ist Psychologin. Sie arbeitet an einem Projekt, wo es darum geht, die Greueltaten der Kriegsjahre aufzuarbeiten. Sie nahm mich mit an eine Buchpraesentation, gab mir Texte und Berichte zum lesen, ich begleitete sie zu ihrer Arbeit und wir redeten eine Menge ueber die juengste Geschichte ihres Landes. Es waren sehr interessante Tage bei ihr zuhause.

Wir gingen zusammen an eine Buchpraesentation. Voces que cuentan - memoria nuestra, ist der Titel des Buches. (Stimmen die erzaehlen – Erinnerungen unsere) Darin werden 44 Personen portraetiert, die im Jahr 1980 umgebracht wurden. Anhand von Erzaehlungen von Angehoerigen wurden die Lebensgeschichten dieser Toten aufgearbeitet. Ihr Tod wurde in den Kriegsjahren verschwiegen, geleugnet oder mit dem Argument gerechtfertigt, dass es Guerilleros gewesen seien. Lese ich nun die Portraits, stosse ich auf Universitaetsprofesoren, Journalistinnen, Studenten oder einfache Bauern. Ihre Einstellungen und Aeusserungen passten scheinbar der damaligen Militaerregierung nicht. Die Personen verschwanden. Oft sind die Koerper bis heute nicht wieder aufgetaucht.

Es war eine sehr ruhige Buchpraesentation. Die Stimmung im Saal war gedrueckt. Im Anschluss an einige Zitate und einer kurzen Lesung wurden Exemplare des Buches verschenkt. 44 Familien wurden aufgerufen – Familien der 44 portraitierten Opfer. Als vor uns zwei grauhaarige Frauen im erhaltenen Buch blaetterten, stiessen sie auf bekannte Gesichter. Vielleicht ihre Soehne. Vielleicht Freunde. Ganz sicher Bekannte. Ich war geruehrt, als ich merkte, von was fuer Personen ich umgeben war. Fuer sie ist dieses Buch nicht nur Text und Fotos. Fuer sie sind es Erinnerungen, sind es Leute aus Fleisch und Blut, sind es Traenen.

Ich habe nun ein Buch mit 44 Portraits von Buergerkriegsopfern in den Haenden. Leider ist dies nur ein kleiner Bruchteil der Anzahl an verschwundenen und getoeteten Personen. Zahlen sprechen von mehr als 100.000 Opfer.

Marisol arbeitet zur Zeit an einem Projekt mit, das einen Teil der Kriegsgeschichte aufzuarbeiten versucht. In Panzos, einem kleinen Doerfchen nahe des Lago Izabal, besucht sie eine Indiogemeinschaft. In ganz Guatemala gibt es noch heute an die 23 verschiedene Ethnien. Im Land werden mehr als 20 verschiedene Sprachen gesprochen. Die Viersprachigkeit der Schweiz scheint mir hier ploetzlich nicht mehr ganz so aussergewoehnlich.

Der Jahre dauernde Buergerkrieg schien vor allem ein Ziel zu haben – die Einschuechterung und teilweise Ausrottung der indigenen Rasse. So hart wie es toent, muss von einem geziehlten Massenmord an den Indigenas gesprochen werden.

So hatte Panzos als kleines Doerfchen auf fruchtbarem Boden eingebettet in ueppige Vegetation viel Leid zu ueberstehen. Das staatlich Militaer versuchte die Bewohner fuer sich zu gewinnen. Wer sich weigerte verschwand. Die Frauen wurden missbraucht. Die Leute verliessen das Land und zogen in die Stadt.

Im Projekt, wo Marisol mitarbeitet, werden nun Frauen aufgesucht, welche waehrend den Kriegsjahren sexuelle Vergewaltigungen erleiden mussten, um ihre Vergangenheit zu erfassen, bekannt zu machen und den Frauen eine psychologische Betreuung zu geben. Doch da Marisol nur Spanisch spricht und die meisten aelteren Frauen in Panzos nur ihre Indiosprachen sprechen, gestaltet sich die Arbeit besonders schwierig.

Panzos ist nur ein Doerfchen von hunderten im ganzen Land. So las ich Berichte über Doerfer wie Chajul oder Nebaj, wo ganze Gemeinschaften massakriert wurden. Im unzugaenglichen Gebiet der guatemaltekischen Berge muessen eine Vielzahl von Gemeinschaften vertrieben, gespalten oder verschwunden sein, von denen man bis heute nur noch gar nichts weiss.

Wer die Mittel hatte, verliess das Land, floh in die Staedte und versuchte sich dort ein Leben aufzubauen. Waehrend das Militaer auf dem Land „arbeitete“, hoerte man in der Stadt davon nichts. Die Nachrichten waren in Staatshand. Die Zensur perfekt. In der Stadt nahm das Leben seinen Lauf. Nur zeitweise hoerte man von einem Toten. Es waren Journalisten, Universitaetsprofesoren oder Studenten. Doch da es Meldungen von toten Guerillos waren, war dessen Tod damit ja gerechtfertigt.

Im Jahr 2006 laufe ich nun durch die Strassen von Guatemala Stadt und begegne Frauen in ihren traditionellen vielfarbigen Indiogewaender. Ihre Kleidungen strahlen im Sonnenlicht. Ihre Gesichter sind gezeichnet vom Leben. Die Haut ist schlaff und tiefe Falten zerfurchen die Gesichter. Der Anblick ist schoen – eine Postkarte.

Doch was machen diese Frauen ueberhaupt hier in der Stadt? Mussten sie waehrend des Krieges fluechten? Was fuer Geschichten verbergen sich wohl hinter diesen farbigen Gewaendern und diesen harmonischen Gesichtern?

Ich sah hinein in das Leben tief unten in der Stadt. Marisol arbeitete waehrend ihres Studiums im Sektor der staedtischen Muelldeponie, wo sie freiwillig die Leute psychologisch betreute. Am Mittwoch nachmittag statteten wir ihren Bekannten einen Besuch ab.

Noch kaum einmal habe ich in meinem Leben solche Lebensbedingungen sehen muessen. Die Ladenfrau, welche Coca-Cola, Nestle-Pulvermilch und Karft-Food-Produkte verkauft, erzaehlte uns von ihrem Sohn. Seit zwei Wochen hat sie keine Nachricht mehr von ihm erhalten. Er ist Drogensuechtig. Sein Schiksal ist ungewiss. Doch als wir nach kurzer Zeit eine Huette weiter gingen, schenkte sie uns ein Suessgetraenk.

Eine Tuere weiter die naechste Lebensgeschichte. Das Maedchen habe keine Papiere. Sie sei etwa 20 jaehrig. Fuer die Welt existiert diese Person nicht. Ich aber sah sie vor mir sitzen.

Hinein ging es beim naechsten Eingang. Als Tuere dient ein Vorhang. Drinnen dringt spaerlich Licht durch das transparente Wellblechdach. Aus drei verschiedenen Quellen droehnte Musik. Daneben lag ein Saeugling und schlief. Die junge Mutter vertrieb mit einem Karton die vielen Fliegen vom Gesicht ihrer Tochter.

Text? Durch die schmalen Gassen gesaeumt aus Wellblechwaenden, wo dazwischen die Kleider zum trocknen hingen, liefen wir zum Sanitaetsposten des Quartiers. Vor der Tuere wartete eine Menschenschlange auf die Ausgabe des taeglichen Haferbreis. Drei Kinder trugen T-Shirts mit der Aufschrift von Western Union. Schon frueh sollen die erfahren, wie sie spaeter einmal das verdiente Geld von der USA nach Hause schicken koennen.

Marisol kannte einige der Leute. Mit einer Frau kam sie ins Gespraech. Vor mehr als einem Monat habe sich ihr Sohn bei der Arbeit auf der Muelldeponie am Fuss verletzt und sei ins Spital eingeliefert worden. Als seine Mutter ihn am naechsten Tag besuchen wollte, war er nicht mehr da. Ein Sozialarbeiter des Spitals habe befunden, dass dieses Kind keine Eltern habe und von der Strasse genommen werden muesse, so dass man ihn in ein Heim einwies. Der leiblichen Mutter wurde eine juristische Verfuegung ausgehaendigt. Diese zeigte sie uns. Darauf standen an die zehn Nummern von Gesetzesartikeln. Seit nun schon einem Monat wuerde sie versuchen, ihren Sohn zurueckzugewinnen – jedoch ohne Erfolg. Eine Frau, die auf der Muelldeponie wohnt, hat vor dem Gesetz keine Stimme. Marisol uebernahm die Angelegenheit und versucht seitdem zusammen mit einem freiwillig arbeitenden Anwalt, den Sohn aus dem Heim zu kriegen um ihn wieder seiner Familie zu geben. Der Ausgang der Geschichte ist zurzeit noch offen.

Am Morgen dieses Mittwochs besuchten wir einen anderen ehemaligen Arbeitsplatz von Marisol – das Colegio Javier. Hier kostet die Schulgebuehr pro Kind 200U$ im Monat.

Mit der Realitaet des Landes wurde ich schon am ersten Tag in Guatemala konfrontiert. Es war der 10.Februar. Ich kaufte mir eine Zeitung. In einem Artikel stand, dass im laufenden Jahr schon mehr als 500 Leute in ganz Guatemala ermordet worden seien. Banden, die soganennten Maras, wuerden ganze Stadtgebiete kontrolliren. Die Polizei und das Gesetz sind machtlos.

Als ich Tage spaeter eine Nacht bei der Feuerwehr in Chimaltenango verbrachte, ging eben ein Notfall ein. Vier Maenner seien tot aufgefunden worden – alle vier erschossen. In scheinbar friedlichen Guatemala kaemen taeglich eben so viele Leute um, wie im kriegerischen Irak. Text?

Das Gewaltpotential im Land ist gross. In den Nachrichten wird davon berichtet. Bei Marisol im Haus erhielten wir zehn Fernsehkanaele. Drei dieser Kanaele waren Religionskanaele. Von Frueh bis Spaet konnte man dort Predigten zuschauen. Ich war oft erschrocken vom Ton dieser Glaeubigen.

Die Religionsauslegung hier im Land erachte ich oft als sehr fundamentalistisch. Wartete ich manchmal auf dem Hauptplatz von Guatemala Stadt auf Marisol, so fand sich immer irgend einen Mann, der in aller Oeffentlichkeit die Bibel verkuendete. Lief ich ueber den Markt, so toente aus zentralen Lautsprechern religioese Musik. Kaufte ich mir ein Eis, legte die Verkaeuferin erst die Bibel zur Seite.

Marisol besucht Englischstunden. Nach ihrer Lektion stellten wir ein junges Maedchen nach Hause. Ich schaetzte sie knapp 20 jaehrig. Beim Abschied sprach sie uns Gottes Segen zu. Zuvor erzaehlte sie uns von ihren beiden Kindern.

Text? Die katholische Religion eroberte vor 500 Jahren das Land. Heute findet eine andere Eroberung statt. Diejenige von Seiten der USA.

Fuhr ich nach Guatemala Stadt hinein, kamen mir zwei Rennvelofahrer entgegen. Sie kehrten um und holten mich ein. Als der eine neben mich zu fahren kam, laberte dieser mega schnell einen Satz runter. Natuerlich auf Englisch. Auslaender darf man hier im Land ja scheinbar nur auf Englisch anreden, da sie ja sowieso kein Spanisch sprechen....

Er meinte, dass er eben geglaubt habe, dass ich Amerikaner sei. Er sei Amerikaner, erwiederte ich. Er sei Mittelamerikaner. Die, die er Amerikaner nenne, seien nichts weiteres als Nordamerikaner. Doch die Leute hier in Lateinamerika haben scheinbar schon das Recht verloren, sich Amerikaner zu nennen.

Durch Marisol lernte ich Juan Carlos kennen. Er war eben an der Planung eines Ausfluges auf einen nahegelegenen Vulkan und lud mich ein. So begab ich mich wieder einmal raus in die Natur.

Text? Wir stiegen auf den 3.800m hohen Vulkan Acatenango. Die eisige Nacht verbrachten wir einige Meter vor dem Gipfel um am naechsten Morgen um 5 Uhr die letzten Meter hoch auf den Acatenango zu laufen. In der Ferne sahen wir die Lichter der verschiedenen Doerfer und Staedte. Unser Blick reichte bis runter an die Kueste des Pazifiks. Der Sonnenaufgang war herrlich.

An den Folgetagen zollte ich Tribut fuer meinen Gipfelsturm. Meine Oberschenkel machten sich bemerkbar. Ich hatte mir einen riesen Kater eingefangen. Vielleicht sollte ich in meiner Freizeit doch einfach ein bisschen mehr Sport treiben.... Dies sagte mir doch nach einem Jahr Veloreise eine Waage in Chile. Ich stellte mich darauf, die Waage mass Groesse und Gewicht und rechnete den Bodymassindex aus. Ich war von der Maschine aus gesehen leicht uebergewichtig. Als Rat erschien unten auf dem ausgedruckten Zettelchen, dass ich etwas mehr Sport treiben sollte - dies nach damals 13.000km auf dem Velo!

Text? Der Abschied von Marisol kam gezwungenermassen. Sie reiste nach Panzos, so dass auch ich weiter zog. Sonst waere ich wohl noch heute dort. Im selben Haus lebt ihre Schwester mit ihren vier Kinder. (sie haben typische Latino-Namen - Lifny, Dorly, Anny und Ever...) Ich schloss sie in mein Herz.

Nun werde ich noch einige Tage hier bei Severine in Quezaltenango verbringen. Fuer Donnerstag hat sie mir einen Bildervortrag an ihrem Franzoesisch-Institut organisiert. Anschliessend mache ich mich an den Umbau meines Fahrrades. Hermes ist tot. Als mein Bruder den neuen Hermes nach Caracas ueberbrachte, stellten wir bald einen Geburtsschaden bei ihm fest. Im Oberrohr tat sich nahe des Lenkers ein Spalt auf. MTB Cycletech in Bern sendete mir einen neuen Rahmen hier nach Quezaltenango. Mit dem dritten Fahrrad hoffe ich es nun bis nach Hause in die Schweiz zu schaffen. Was dem Neuen nun noch fehlt ist sein Name. Er wird ihn sich erfahren muessen.

Gruss Chrigu
Quezaltenango, Guatemala