23 April 2006 - Tactic, Guatemala



Hallo Freunde

Vor zwei Wochen fuhr ich nach einer meiner bisher laengsten Pausen wieder raus aus Xela. In den fuenf Wochen bei Severine konnte ich wieder einmal vom Luxus eines sesshaften Lebens profitieren. Ich genoss es sehr. Erst als Severine vor zwei Wochen zu ihrem Freund nach Canada flog und mich auf die Strasse stellte, war ich gezwungen, endlich wieder weiter zu fahren. Die Tage in der Stadt vergingen schnell. Doch wieder unterwegs merke ich, dass ich an einem Tag unterwegs ein Vielfaches von dem erlebe, was ich waehrend Wochen in der Stadt erlebte. Ich bin froh, letztendlich von Severine auf die Strasse gestellt worden zu sein.

Im letzten Massenmail schrieb ich von den 23 verschiedenen in Guatemala existierenden Sprachen. Fahre ich nun durch das Land, wird mir diese Sprach- und Kulturvielfalt erst richtig bewusst.

Ich erreiche Huehuetenango - km 0. Die Leute sprechen Quiche.
Ich fahre ueber einen Huegel und gelange in das Flusstal von Aguacatan - km 30. Die Leute sprechen Aguateco.
Ich fahre ueber einen weiteren Berg und gelange nach Sacapulas - km 60. Die Leute sprechen Sacapulteco.
Ueber eine geschwungene Strasse klettere ich hoch nach Uspantan - km 100. Die Leute sprechen Uspantaneco.
Entlang der Bergflanken fahre ich nach San Cristobal - km 130. Die Leute sprechen Poqomchi.
In einem staendigen rauf und runter ueber rund geformte gruene Huegel erreiche ich Coban - km 160. Die Leute sprechen Q'echi.

Ueber jeden Bergruecken hinweg aendert das Volk! Es ist unglaublich die Vielfalt der Bevoelkerungsgruppen, die die Berge hier in Guatemala bewohnen. Zu den verschiedenen Sprachen kommen die von Volk zu Volk verschiedenen Gewaender. Jedes Volk hat seinen eigenen Kleidungsstil. Doch sind es jeweils nur die Frauen, die die traditionellen Gewaender tragen. Die Maenner stuerzen sich in T-Shirts mit der US-Flagge darauf oder dann lese ich auf den Ruecken die Schriftzuege von Ronaldinho, Beckham und Co.

Durch die verzweigten Huegel hindurch erreichte ich Sacapulas, wo ich herzlich bei der Feuerwehr aufgenommen wurde. Als wir am Abend zusammen sprachen, erzaehlten sie mir von den Ostertraditionen hier im Dorf. Ich erzaehlte ihnen von meiner Grippe. Beides zusammen veranlasste sie, mir die Erlaubnis zu geben, bis Sonntag bei ihnen im Feuerwehrquartier zu bleiben. So blieb ich drei Tage bei der Feuerwehr in Sacapulas, konnte schlafen, mich erholen und war am Ostersonntag wieder fit, um weiter zu ziehen.

Bevor ich in Sacapulas einfuhr, ueberquerte ich eine Bruecke. Vom Flussbett aus droehnte Musik. Ich hielt an und schaute den Festlichkeiten zu. Bald merkte ich, um was es sich dabei handelte. Es war eine evangelische Gemeinschaft an einer Taufprozession. Erst wurde am Trockenen dem allmaechtigen Gott Loblieder gesungen, bevor zwei Maenner sich in die Stroemung stellten, um die Taufe auch richtig zu vollziehen. Ein Taeufling nach dem andern wurde ins Wasser gefuehrt, wo ein paar Sekunden die Haende in den Himmel gestreckt und den Kopf zu Boden gesenkt wurden, bevor die beiden Maenner den Taeufling packten, ihn ruecklings runter ins Wasser legten, untertauchten und ihn so tauften.

Kopfschuettelnd fuhr ich nach abgeschlossener Taufe weiter, als ich am Tempel dieser Evangelisten vorbei fuhr. Zwei Frauen winkten mich zu sich und luden mich zum Mittagessen ein. So kam ich auch noch dazu, mit diesen frisch getauften Leuten zu reden.

Mit einer ca. 30 jaehrige Frau kam ich ins Gespraech, die heute ihre Taufe feiern durfte. Sie sein stolz, nun ihrem Gott dienen zu koennen und ihm gehorsam zu sein, meinte sie. Was denn der Grund gewesen sein, dass sie sich nun habe taufen lassen, fragte ich. Sie lebe ich Guatemala Stadt. Ihr Mann habe dort eine Trinkerkneipe gefuehrt. Eines Tages haetten es zwei Kunden auf sein Natel abgesehen gehabt. Es sei zu einer hitzigen Diskussion gekommen. Doch die Kunden haben nicht lange diskutieren wollen, zueckten die Pistole und knallten den Mann nieder.

In Guatemala herrschen die "maras", diese gefuerchteten bewaffneten Gruppen. Die beiden Moerder haben scheinbar einer solchen "mara" angehoert. Die Gruppe gibt ihnen nun Schutz. Das Gesetz ist schwach. Den beiden Moerder werde nichts passieren. Sie laufen weiterhin frei durch die Strassen Guatemalas. So sucht diese Frau nun den Schutz Gottes und laesst sich von der Iglesia de Dios - Evangelico Completo taufen. Irgendwie kann ich sie verstehen.

Dann sprach ich mit einem der beiden Maenner, die die Leute tauften, dh. sie ins Wasser tauchten. Er sei Lehrer gewesen. Heute arbeite er aber nicht mehr. Er habe sich pensionieren lassen. Ob die Rente ihm denn zum Leben genuegen wuerde, fragte ich. Er bejahte es. Doch ist er eben einer der Privilegierten, die aus dem Glauben ihren Profit ziehen koennen. Oder wurden wohl die Leute einfach so ganz gratis dort untergetaucht und getauft...?!

Die Tage in Sacapulas wurden wieder einmal sehr interessant. Die Feuerwehrmaenner kamen und gingen. Ich hatte staendig mit neuen Maennern Kontakt. Ohne es zu forcieren, erfuhr ich von vielen von ihnen Geschichten zu ihrem Leben waehrend des Konfliktes. Schauten wir zusammen einen Fussballmatch, gab das eine Wort das andere und schon wurde mir erzaehlt. Lag ich auf dem Bett und legte sich ein Feuerwehrmann neben mich, ergab ein Wort das andere und schon erzaehlte er mir seine Version vom Konflikt. Sass ich in der Kueche und schrieb Tagebuch, setzte sich einer neben mich, erkundigte sich erst nach meiner Reise, bevor ein Wort das andere ergab un er mir seine Geschichte zum Krieg erzaehlte. Ich wurde jedes Mal mit haengendem Kiefer zurueck gelassen.

Genau diese natuerliche Art einen Einblick ins Leben der Leute zu erhalten, motiviert mich immer wieder von Neuem, bei der Feuerwehr anzuklopfen. Wer mit mir sprechen will, der spricht. Ich bin fuer sie nicht Geschaeft. Durch sie habe ich schon so viel erfahren, was mir in einer bezahlten Unterkunft nie zu Ohren gekommen waere.

So wurde mir zum Beispiel vom "Massaker an den 9" erzaehlt. Der eine Bombero erwaehnte es und meinte, dass eines Tages eine Familie von 9 Mitgliedern dort oben auf der Strasse im Dorf aufgereiht und etwas spaeter abgeknallt wurde. Im Dorf sei es als das "Massaker an den 9" bekannt.

Als ich am folgenden Tag mit Rufinoin der Kueche sass und wir zusammen redeten, erwaehnte ich das "Massaker an den 9". Er wusste darueber genau Bescheid. Der Grund fuer diese Greueltat ist haarstraeubend. Das junge Maedchen der Familie habe dem einen Soldaten gefallen. Soldaten haetten waehrend den Kriegsjahren die Allmacht gehabt. So nahm er sich das Recht heraus, diesees Maedchen vergewaltigen zu wollen. Doch das Maedchen liess dies nicht zu und wehrte sich. Am folgenden Tage sei dieser Soldat wieder bei der Familie erschienen. Nun wollte er nicht vergewaltigen - nun kam er sich raechen. So schleppten die Soldaten die Familie auf die Strasse und schossen alle 9 Familienmitglieder nieder. Dies ist es also, das "Massakaer an den 9".

Oder dann wurden die Bomberos nach Pie del Aguila gerufen. Pie del Aguila - dort sass ich auf der Bruecke und schaute der Taufzeremonie der Evangelisten zu. Als vor 20 Jahren die Bomberos nach Pie del Aguila fuhren, fanden sie die Bruecke als Leichentraeger vor. 150 massakrierte Personen, Frauen, Maenner und Kinder, seien auf der Bruecke aufgehaeuft gewesen. Die Soldaten des staatlichen Militaers haetten ihre Willkuehr walten lassen.

Lange sass ich mit Rufino in der Kueche. Er hatte irgendwie Lust, mir aus seinem Leben zu erzaehlen. Bis 1996 der Friedensvertrag unterzeichnet wurde, habe man nicht ueber den Konflikt reden koennen. Heute koenne man es. Rufino betonte immer wieder, wie herrlich es ist, sich nun frei aeussern zu koennen. Etwas, was fuer uns in der Schweiz selbstverstaendlich ist. Schon fuer unsere Urgrossvaeter war es selbstverstaendlich.

Doch scheint es, dass man in den 80er Jahren von den zahlreichen international unterstuetzten Kriegen hier in Mittelamerika im Ausland wenig bis nichts erfahren hat. Erhalte ich von meiner Mama Rueckmeldungen zu meinen Berichten, so muss sie mit erschrecken feststellen, dass man in Europa darueber gar nicht informiert wurde. Der guatemaltekische Staat kontrollierte alles. Reden konnte man nicht. Schreiben noch weniger. Wer es wagte, sich der Regierung zu widersetzen, der wurde beseitigt.

So versichern mir die Bomberos in Sacapulas, dass ich vor 20 Jahren niemals haette mit dem Velo hier durchfahren koennen. Man haette mich beseitigt. Ein Auslaender war gefaehrlich. Er haette ja etwas an die Oeffentlichkeit bringen koennen.

Rufino musste aus seinem Geburtsort Sacapulas fluechten. Ihm waren die Soldaten auf den Fersen. Waere er nicht gegangen - er wuerde wohl heute nicht mehr mir gegenueber sitzen... Der Grund fuer seine Flucht war ein Maedchen. Damals als 19 jaehriger hatte er eine Freundin, die eben auch einem Soldaten gefiel. Die Soldaten hatten in diesen Jahren die Allmacht. Als er eines Tages vor dem Militaerquartier mitten im Dort vorbei lief, wurde ihm ein Gewehr in den Ruecken gestossen. Er wurde zum stehenbleiben gezwungen. Doch er blieb nicht stehen. Waere er stehen geblieben - er wuerde wohl heute nicht mehr mir gegenueber sitzen... So lief er weiter. Ihm wurden Steine an die Achilessehne geworfen. Doch er schaffte es bis zu seinem Haus. Dort schloss er sich ein. Es war Abend. Die ganze Nacht durch lag er wach. Die Soldaten wussten ja schliesslich, wo er wohnte. Und eine Tuere haetten die noch allemal aufgebracht. Als es am naechsten Tag hell wurde, packte er sein Zeugs und haute ab. Mehr als zwei Jahre lebte er bei einem Onkel in San Marcos. Um alles in der Welt habe er nach Sacapulas zurueck gewollt. Dort hatte er seine Kollegen, dort wartete seine Freundin. Doch seines Lebens wegen musste er in der Ferne bleiben.

Normalerweise beschuetzt das Militaer die Bevoelkerung. Doch waehrend den Kriegsjahren hier in Gautemala war dies keinesweg so. Mehr als 90% der Morde muessen dem staatlichen Militaer angelastet werden. Die Militaerquartiere befanden sich immer mitten in den Doerfern. Aus der maennlichen Dorfbevoelkerung wurden die PAC gegruendet, die "patrullas de autodefensa civil". Diese stellten sich in Gruppen von ca. fuenf Maennern an den Wachposten rund um die Doerfer auf, um das Militaer vor Guerillaangriffen zu schuetzen. Die Bevoelkerung wurde als menschliche Schutzschilder gebraucht.

Als ich in Xela war, hoerte ich das erste Mal von den PAC. Ich bekam das Bild, dass dies radikale indiofeidliche Maenner gewesen sein mussten, die so etwas tun konnten. Als ich nun bei den Bomberos in Sacapulas mit den Maennern sprach, entlarvten sich fast alle als ex-PAC. Sie haette schlicht keine andere Wahl gehabt. Entweder man sei Soldat gewesen, oder habe sich der Guerilla angehaengt oder wurde gezwungen, bei den PAC mitzuwirken. Wer sich weigerte, wurde als Gehilfe der Guerilla angeklagt und ermordet.

Rufino hatte einmal eine Begegnung mit einer Guerillagruppe. Sein Bus sei von den Guerillas angehalten worden. Alle Passagiere wurden zum Aussteigen gezwungen. Der Kommandant began zu reden. Er klaehrte die Leute auf, dass sie als Guerilla mit all den Morden nichts zu tun haetten. Der Kommandant redete. Er versuchte den Leuten die Augen zu oeffnen. Als eine Frau der Gruppe Mangos schenken wollte, lehnte dies der Kommandant ab. Letztendlich bezahlte er die entgegengenommenen Mangos. Man koenne nicht die Leute berauben, denen man helfen will, so die Philosophie der Guerillas. Die Soldaten besassen wohl eine ziemlich andere Philosophie. Oder eben gar keine. Sie mordeten, vergewaltigten, raubten, brannten....

Von Morden an Kindern wurde mir erzaehlt. An den Fuessen seinen diese gefasst und wie Keulen an Waenden und Baeumen zerschmettert worden.

Von den erwachsenen Toten sein fast keiner einfach so ermordet worden. Die Strafe soll auch gerecht sein und so wurde erst mal richtig gefoltert. Abgeschnittene Brueste, aufgeschlitzte Schaedel, verbrannte Koerper - der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Als ich im Buch geschrieben von Elizabeth Burgos ueber das Leben der spaeteren Nobelpreistraegerin Rigoberta Menchu "Me llamo Rigoberta Menchu y asi me nacio la conciencia" las, was ihre Familienangehoerigen fuer Misshandlungen ueber sich haben ergehen lassen muessen, kamen mir sogar beim lesen die Traenen. Nun bestaetigten mir die von mir getroffenen Personen all die im Buch beschriebenen Greueltaten. Greueltaten, von denen wir bis heute immer noch wenig bis nichts wissen. Sehr empfehle ich darum das Buch "Me llamo Rigoberta Menchu y asi me nacio la conciencia".

Als 1996 der Friedensvertrag unterzeichnet wurde, hatten die hohen Herren viel zu befuerchten. Ploetzlich liefen sie Gefahr, zur Rechenschaft gezogen zu werden. So brachten sie es zustande, dass im Friedensvertrag eine Klausel eingefuegt wurde, die es verbietet, ueber Verbrechen waehrend des Krieges zu richten. Wer gemordet, gefoltert oder vergewaltigt hat, muss heute keine Angst haben, dafuer zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auf Guatemalas Strassen laufen in-cognito die Moerder, welche faehig sind, Kinderkoepfe an Baumstaemmen einzuschlagen, frei herum. Dies macht mir Angst. Es scheint der Naehrboden zu sein fuer die "maras", die Morder von heute.

Die Feuerwehrmaenner erzaehlten mir offen ihre Geschichten. Doch untereinander werde nicht darueber gesprochen. Man wisse nur sehr grob, was der Freund, der Nachbar und der Arbeitskollege waehrend diesen Jahren getan hat.

Als wir am Freitag vor dem Feuerwehrquartier ein Fest feierten, betranken sich viele Dorfbewohner schrecklich. Viele der Trunkebolde waren aelteren Semesters. Als ich mit Rufino redete, begann ich auch diese Maenner zu verstehen. Sie waren eben auch Teil des Konfliktes. Nach so viel Gewalt, Blut und Toten sei oft der Alkohol die einzige Medizin, die die schrecklichen Eindruecke vergessen laesst.

Fahre ich unterwegs an den Passanten vorbei, begruessen mich die meisten mit einem freundlichen laecheln. Gruesse ich aeltere Leute, muss ich fast immer daran denken, was sie wohl in den 80er Jahren durchgemacht haben muessen. Ich bin froh es nicht von allen zu wissen! Doch manchmal braucht es dazu eben gar keine Worte. So erblickte ich eine Frau, deren Rollkragenpulli die Verbrennungen am Nacken nicht ganz verdecken konnte. Dort hinten verbrennt man sich nicht am Feuer beim Kochen. Da sind wohl Soldaten schuld.

So fuhr ich nach vier Naechten in Sacapulas wieder genesen und mit Tausenden von neuen Geschichten weiter. Ich erreichte Uspantan. In 5 Std Fussmarsch erreicht man von hier die Aldea Chirmel. Dort sein Rigoberta Menchu zur Welt gekommen. Doch heute sind die Dorfbewohner nur schlecht auf ihre beruehmte Buergerin anzusprechen. Sie habe sich all zu sehr von der einfachen Landbevoelkerung entfernt. Unterstuetzung geniesse sie im Dorf nur noch sehr wenig.

Als ich auf der Strasse sitzend ein Guezli ass, lief Miguel vorbei. Er setzte sich zu mir. Bald nahm er mich zu sich nach Hause. Im Hinterhof seines Hauses besitzt er eine "Kerzenfabrik". Hunderte von Hand gezogener Kerzen hingen an den Waenden. Kerzen dienen zur Lichterzeugung und so fragte ich ihn, ob die fortschreitende Elektrifizierung in den verschiedenen Aldeas sein Geschaeft nicht ruinieren wuerde. Doch die Kerzen wuerden nicht ausschliesslich zur Lichterzeugung gebraucht. Vielmehr dienen sie zu religioesen Zwecken. Der Glaube auf dem Land, eine Mischung aus traditionellem Glauben und eingefuehrtem katholischen Glauben, ist sehr stark. Vor Heiligenbilder brennen tagelang die Kerzen. Fuer Miguel ist dies ein guten Geschaeft.

Miguel erzaehlte mir aus seinem Leben. Dass er einst ein Kleidergeschaeft besessen habe. Dies sei gut gelaufen, so dass er sich bald seinen eigenen kleinen Lastwagen kaufen konnten. Wer einen Lastwagen und ein Geschaeft besitzt, der lebt recht wohlhabend. Den "maras" fiel dies auf. Eines Tages wurde er unterwegs aufgehalten. Ihm wurde alles Geld abgenommen. Als Abschied erhielt er einen Schuss in den Bauch.

Ein ganzes Jahr lag er in Coban im Spital. Sein Kleidergeschaeft lief schlecht, bis er es ganz schliessen musste. Als er sich nach langen Monaten im Spital erholt hatte, erkrankte er an einer Blutvergiftung. Weitere Monate musste er im Spital im Bett auf seine Genesung warten. Er hob sein Hemd und zeigte mir seine lange Narbe. Seit zwei Jahren gehe es ihm nun wieder gut. Doch als er aus dem Spital entlassen wurde, plagten ihn ploetzlich Ueberlebensaengste. Das Geschaeft war kaputt und er bis tief in den Grund verschuldet. Krankenversicherung gibt es fuer die arme Bevoelkerung keine. So begann er Kerzen zu ziehen. Nun habe er sich ein anstaendiges Geschaeft aufbauen koennen, welches ihm erlauben wuerde, davon zu leben und seinen sechs Kindern Studium und Nahrung geben zu koennen.

Dass die Geschichte von Miguel in Uspantan kein Einzelfall ist, bestaetigte mir Tage spaeter Ramon Tzalam in Sacta.

Ich fragte bei einem Haus fuer Wasser. Waehrend der kleine Reinaldo meine beiden Flaschen fuellen ging, began Ramon zu reden. Er sah ganz aus wie ein Lastwagenfahrer, so dass ich ihn nach seiner Beschaeftigung fragte, als er meine Vermutung bestaetigte. Doch ich sah nirgendwo einen Lastwagen. Dieser habe er besessen. Doch dann sei ein Teil kaputt gegangen und er stellte sein Fahrzeug in eine Werkstatt in Coban. Drei Monate musste er auf das Ersatzteil warten. Als er seien Lastwagen wieder abholen wollte, war dieser nicht mehr dort. Der Besitzer der Werkstatt habe ihn verkauft und das Geld eingesackt....

So funktionieren die Geschaefte hier in Guatemala. Wer sich etwas erarbeitet hat, dem wird sein Verdienst bald genommen. Wer Glueck hat, wird nicht gleich erschossen.

Nun versucht Ramon wenigstens das Geld zu bekommen, um sich wieder ein Arbeitsgeraet zu kaufen. Doch die Justiz sei langsam. Er wisse nun, wer der Kaeufer ist und was bezahlt wurde, doch auch so sei es schwierig, ans Geld zu kommen.

Bevor es runter in das feucht-heisse guatemaltekische Tiefland ging, flitzte ich ueber eine herrlich geteerte Strasse. Schon zuvor fuhr ich ueber eben erst fertiggestellten Asphalt. Die guatemaltekische Regierung, die kein Geld fuer nichts zu haben scheint - hat sie ploetzlich Geld, um Strassen zu bauen?

Die Finanzierung sei aber durch die Entwicklungszusammenarbeit mit Japan sichergestellt. Guatemala bezahle dafuer nichts. Eine grosszuegige Spende, dachte ich, in einem fernen Land herrlich breite, asphaltierte Strassen zu bauen. Ich war begeistert von den uneigennuetzig handelnden Japanern.

Bald aber oeffneten sich meine Augen. Mir wurde der Grund fuer diesen Strassenbau erzaehlt. Japan fabriziert Auto. Ein Land mit guten Strassen kauft diese Autos. So werden Exklusivlizenzen fuer den Autoimport vergeben, die sich hier in Guatemala eben die japanische Motorenindustrie geangelt hat. Begann ich mich zu achten, so entdeckte ich lauter Mitsubishi, Nissan, Toyota, Suzuki, Kia, Mazda und Isuzu-Autos auf Guatemalas Strassen.

Wie uneigennuetz ist also eine solche Entwicklungszusammenarbeit? Wer profitiert von dieser Zusammenarbeit mehr? "Wenn ein Riese und ein Zwerg auf denselben Strassen gehen, wird jeder Schritt, den sie beide tun, dem Riesen einen Vorsprung verschaffen". Dies schreibt Jean-Jaques Rousseau im Buch "Abhandlung ueber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen". Dieser Satz beschreibt buchstaeblich, was diese Entwicklungszusammenarbeit bewirkt. Klar hat Guatemala nun tolle Strassen. Doch Japan investiert einen Bruchteil dessen, was fuer sie als Gewinn herausschauen wird.

Dient die Entwicklungszusammenarbeit schlicht zur Legitimierung fuer die anhaltende Ausbeutung der Laender der 3. Welt? Sah ich einmal meine beruflich Zukunft im DEZA (Direktion fuer Entwicklung und Zusammenarbeit), stelle ich dies immer mehr in Frage.

Als ich aus Coban raus fuhr, fand ich fuer die Nacht Unterschlupf im Materiallager der Krankenstation der Aldea Chicojl. Neben mir standen Kuebel mit Speiseoel. Am Ende des Raumes waren Reissaecke aufgeschichtet. Darauf stand jeweils gross "USAID - eine Spende des us-amerikanischen Volkes fuer die Leute in Guatemala".

So begann ich mir in diesem Sanitaetsposten auch ueber die USAID-Nahrungsspenden Gedanken zu machen. Die Boerse fuer Nahrungsmittel befindet sich in Chicago. Nun spendet die USA Reis fuer die 3. Welt. Wie viel Reis produziert die USA selber? Dienen diese laecherlichen Nahrungsmittelspenden wohl einfach zur Regulierung der Weltmarktpreise? Wie uneigennuetz hilft die USA diesen Laendern hier? Es wird ja von einer Zusammenarbeit und nicht von einer Hilfe gesprochen.

An den Waenden dort in der Sanitaetsstation waren mit verschiedenfarbenen Faeden Grafiken aufgezeichnet. Jedes Kind unter 3 Jahren hat dort seine Koerpergewichtsgrafik. Viele der Kinderlein befanden sich unter der fuer ihr Alter gesunden Gewichtslimite.

Als ich auf einer Schotterstrasse um einen Huegel kurvte, stellte sich mir ploetzlich eine Schranke in den Weg. Ich kam mit Bartolome, dem Schrankenwaechter, ins Gespraech. Er habe waehrend Jahren in der Hauptstadt bei "Wackenhut", einem privaten Sicherheitsunternehmen, gearbeitet. Stand er vor einem Supermarkt, so bezahlte der Supermarkt 7000 Quetzales monatlich. Bartolome bekam taeglich 50 Quetzales ausbezahlt. "Wackenhut" ist ein us-amerikanisches Unternehmen mit Hauptsitz in Florida. Der Gewinn verschwindet - die eh schon reichen Laender machen weiterhin Gewinn.

Bartolome erzaehlte von den unterernaerten Kinder hier in der Gegend. USAID habe hier keinen Sanitaetsposten. Die Strasse ist schlecht und so hat man die Leute hier hinten vergessen. Die Kinderbaeuche sollen aufgedunsen sein.

So fragte mich Bartolome nach Rat. Von mir als Auslaender versprach er sich Hilfe. Wieder einmal trat jemand mit einer Bitte an mich, die ich noch so gut verstehen konnte, es aber ausser meinen Moeglichkeiten liegt, hier etwas zu tun. Ich fuehlte mich hilflos.

Waehrend ich mit Bartolome sprach, stellte sich bald seine Vater Pedro neben uns. Mir fiel sein Auge auf. Er besitzt nur eines. In seiner linken Augenhoehle oeffnete sich ein Loch.

Da begann Pedro zu sprechen. Ob ich nicht wuesste, wo er sich wegen seinem Auge operieren lassen koennte. Das Geld fuer Transport, Spital und Operation koenne er natuerlich nicht selber aufbringen. Mir blieb nichts anderes uebrig als ihn auf eine Hilfsorganisation (Care) aufmerksam zu machen, die wohl in Coban ein Buero hat und welche die Spenden von USAID verwaltet. So hoffe ich doch, dass Bartolome und Pedro mit ihren Bitten bei Care Gehoehr finden werden.

Entlang des Flusses ging es weiter. In der Mittagshitze stieg es steil nach Cahabon an um fortan in weiten Boegen den Bergruecken entlang in ein weiteres Tal zu fuehren, wo ich wieder steil zum naechsten Fluss runter bremste. Die Haenge waren ueppig gruen bewachsen. Doch immer oefters sah ich braun. Viele Teile der steilen Berghaenge werden mit Machenten abgeholzt.

Als ich um eine weitere Ecke kurvte traf ich auf eine Turnklasse, die bei mehr als 35 Grad Froschhuepfen machten. In dieser Zone war oft der Atem kuehler als die Umgebungstemperatur. An die 10 Liter Fluessigkeit werde ich an diesen Tagen wohl getrunken haben.

Die Turnklasse waren ausschliesslich Buben. Die Maedchen sassen daneben am Schatten und schauten zu.

Der Lehrer Eric erzaehlte mir vom Unterricht. Hier reden die Leute Q'echi. So werde die meisten Stunden auf Q'echi gehalten. Doch Buecher gaebe es kaum. Die Arbeit des Lehrers bestehe vor allem darin, Sachen an die Tafel zu schreiben, die die Kinder anschliessend ins Heft kopieren.

Kommen die Kinder mit ca. 6 Jahren in die Schule, sprechen nur die wenigsten Spanisch. In den Familien wird Q'echi gesprochen. Waehrend ich mit Eric redete, bemerkte ich, dass die Kinder uns wohl nicht verstanden. Um mein Fahrrad hatte sich eine Gruppe von 15 Knaben versammelt. Die Maedchen blieben fern. Sie sassen immer noch am Schatten.

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist gross. So konnte ich hier in dieser abgeschiedenen Gegend vier verschiedenen Verhaltensformen studieren.

Der Mann gruesst, redet mit mir und ruft mir motivierende Sprueche zu.

Die Frau bleibt stumm, geht schweigend ihren Weg weiter, wie als ob sie mich nicht gesehen haette.

Die Burschen rufen mir frech aus jeder Ecke hervor "gringo" zu, stellen sich um mein Fahrrad herum und druecken auf den Elefantenkopf vorne an meinem Fahrrad, so dass es pfeift.

Die Maedchen - sobald sie mich erblicken, packen sie ihr Stoffbuendel und beginnen zu rennen. Hinter dem naechsten Busch oder der naechsten Haeuserecke verstecken sie sich vor dem weissen Mann. Bin ich einige Meter weiter und schaue in den Rueckspiegel, so sehe ich die Koepfe aus ihren Verstecken hervorragen, um zu versichern, dass dieser weisse Mann nicht doch nur eine Erscheinung war....

Ich fuhr nach Panzos, dort wo Marisol, meine Gastgeberin in Guatemala Stadt, an ihrem Projekt arbeitet. Es geht da ja darum, die Vergewaltigungsgeschichten aufzuschreiben. Erst habe Marisol nach dem etwaigen Datum der Vergewaltigung gefragt, bis sie feststellen musste, dass sie besser nach dem Zeitraum der Vergewaltigungen fragt....

Panzos hat harte Tage hinter sich. Im ganzen Land wird vom Massaker in Panzos gesprochen. Indigenas aus der Umgebung versammelten sich 1982 im Dorf um gegen die unmenschlichen Behandlungen auf den Fincas in der Umgebung zu protestieren. Der Regierung passte dies nicht. Sie liess das Militaer anruecken. Die machten Kurzenprozess. Mehr als 900 Personen, inkl. Frauen und Kinder, sollen an diesem Tage erschossen worden sein.

Dies erzaehlt mir Martin. Ich treffe ihn auf der Finca Papalha. Am Tag dieses Massakers sei er per Bus durchs Dorf gefahren. Er sah die Leute auf dem Paltz stehen. Wenige Minuten nachdem er das Dorf verlassen habe, soll die Menschenschlachtung begonnen haben.

Auf der Finca Papalha verbrachte ich eine weitere Nacht. Ich werde wieder einmal Zeuge eines ganz dunkeln Kapitels der guatemaltekischen Geschichte.

Bis 2002 war Staat Besitzer der Finca. Ein Administrator befahl. Der Gewinn kam den Leuten zugute, die eh schon viel hatten. Die Arbeiter, die sogenannten Colonos, wurden kaum entloehnt.

Dass die Colonos auch richtig arbeiteten, hatte es Caporales. Diese standen mit Stoecken hinter den Colonos und trieben vorwaerts. Wer nicht richtig arbeitete, der wurde misshandelt. Wer zu viele Probleme machte, der wurde auf die Strasse gestellt. Wer etwas weniger Glueck hatte, wurde hingerichtet. Die Indigenas zaehlten weniger als ein Hund.

Die Colonos waren ausschliesslich Indigenas. Die Caporales waren Ladinos, Nachfahren von Europaeern. Die Rassentrennung war klar.

Die Bezahlung war miserabel. Wer etwas kaufen wollte, hatte keine andere Wahl, als das Produkt im Laden der Finca zu kaufen. Die Preise waren hoch und es wurde geschaut, dass alle Familien am Ende des Monats sich etwas verschuldet hatten, so dass sie durch ihre Arbeit erst die Schulden abzahlen mussten und so ihr Leben lang abhaengig blieben. Sie waren schlicht und einfach Leibeigene. Besitz der jeweiligen Finca.

Martin erzaehlte viel von seinen Vorfahren, die ihr Leben lang unter aergster Sklavenhaltung auf der Finca arbeiten mussten. Ihm bleibt dies nun hoffentlich erspart. 2002 rangen die Colonos zusammen mit der CUC, dem "Comite de Unidad Campesina", einer politischen Organisation der Campesinos, und internationaler Unterstuetzung durch, dass die Finca den Colonos uebergeben wurde. Waehrend frueher der Staat absackte, koennen heute 170 Familien oder mehr als 800 Leute vom erhaltenen Land leben.

Angepflanzt werde vor allem Mais. Gegessen werden Toertillas und Mais. Der Speiseplan scheint sehr eintoenig zu sein, so dass ich Martin fragte, wieso denn keine z.B. Karotten angebaut wuerden. Das Klima wuerde dies sicher zulassen. Martin antwortete mir, dass eben niemand wisse, wie dies zu machen sei... Die Bildung fehlt gaenzlich. Es wird so bebaut, was es die Vorfahren weitergegeben haben.

Martin erzaehlte mir von 1989, seinem 18 Lebensjahr. Da wurde er in den Militaerdienst eingezogen. 30 Monate leistete er Dienst. Sich weigern konnte er nicht. Waehrend den Kriegsjahren musste jeder volljaehrige Juengling Position beziehen. Entweder man leistete Militaerdienst oder patroullierte fuer die PAC. Wer sich weigerte wurde der Gehilfenschaft mit den Guerillas angeschuldet. Wer fluechten konnte, fluechtete. Die Andern wurden beseitigt.

Martin erzaehlte mir von den Szenen dort oben in den Bergen im Quiche, der am haertesten umkaempften Kriegszone. Gnade habe es keine gegeben. Entweder er oder du. Als Martin einmal einen Guerillero vor sich liegen hatte, wurde er zu dessen Erschiessung gezwungen. Haette er sich geweigert, so haette Martin daran glauben muessen. Entweder er oder du. Die Offiziere, alles Ladinos, hatten die Indigenas unter totaler Kontrolle.

Martin redete sehr gut Spanisch. Dies habe er im Militaer gelernt. Wer irgend eine der Indiosprachen redete, wurde bestraft.

Unterwegs war mir aufgefallen, dass im Q'echi keine eigenen Begriffe fuer die Wochentage gebraucht werden. Man braucht die spanischen lunes, martes..... So fragte ich nach. Die Vorfahren kannten keine Wochentage. So existieren diese Begriffe auch heute nicht.

Die Vorfahren kannten auch kein Fahrrad, und so wollte ich herausfinden, ob auch da der spanische Begriff gebraucht werde. Aber nein, im Q'echi gibt es einen eigenen Begriff. Ich fragte nach der Bedeutung, da ich vermutete, dass es irgend eine Umschreibung sein muss. Fahr-rad - wie im Deutsch ja auch. Und so war es dann auch. "bajlak-chich" heisse es - Kolben aus Eisen. Fuer die Mayas ist der Mais heilig. In ihrem heiligen Buch, dem "popol-vuh", wird beschrieben, dass der Mensch aus Mais besteht. So wird nun aus dem Fahrrad auch ein (Mais)Kolben aus Eisen.....

Mit meinem Maiskolben aus Eisen werde ich morgen wieder weiter ziehen. Erst fahre ich ueber einen weiteren Berg nach Quirigua, um dort die Ruinen zu besuchen. In einer Woche hoffe ich in Tikal, der wohl eindruecklichsten der entdeckten Mayaruinen, umgeben von dickem Regenwald, zu sein. Dann wird mich mein dreimonatiges Visum zwingen, nach Belize auszureisen.

Gruss Chrigu
Tactic, Guatemala


P.S.: Hat jemand Bekannte, Freunde, Familienmitglieder oder sonst Menschen, die in den naechsten Wochen/Monaten nach Mexico, Yucatan, Cancun oder Cuba reisen? In der Schweiz wartet auf mich ein Packet. Eine Postsendung ist unheimlich teuer. Wer koennte mir dieses Packet ueber den grossen Teich transportieren? Vielen Dank fuer die Hilfe!