26 Juli 2006 - Madrid, Spanien
Hallo Freunde
Ich befinde mich in Madrid, Spanien, Europa. Am Dienstag, 25.7.06 um 20.00
Uhr hob die AirEuropa-Maschiene des Fluges Nr. 064 auf dem Flughafen von
Cancun ab. Heute Mittwoch um die Mittagszeit bin ich nach fast drei Jahren
in Lateinamerika wieder nach Europa zurueckgekehrt. Vor mir liegen nun noch
einige hundert Kilometer bis ich Mitte September bei meinen Eltern in Zimlisberg,
Bern, Schweiz einfahren werde.
Mein Rueckreiseentscheid fiel sehr kurzfristig. Ploetzlich ging alles sehr
schnell. Noch am 12.6. schrieb ich in mein Tagebuch von meinen Plaenen, Mexico
zu durchfahren. Schon eine Woche spaeter schrieb ich den Satz: "Heimkehrentscheid
scheint sich zu festigen". Am 26.6., also genau vor einem Monat, vertraute
ich diesen Entscheid als erstes meinem Burder Stefan an. Erst vor einer Woche,
als ich mich schon wieder zurueck in Cancun befand und meinen Eltern telefonierte,
erfuhren auch sie davon. Am vergangenen Montag kaufte ich mein Flugticket.
Das billigste Angebot war der gesterige Flug nach Madrid, so dass ich heute
in Spanien gelandet bin. Per Fahrrad fahre ich nun noch zurueck nach Hause.
Die ruhigen Tage und heissen Mittagsstunden ich Cuba liessen mir viel Zeit
zum lesen, schlafen und denken. Ich dachte viel und so kam ich ploetzlich
zum Schluss, dass auch Schneckentempo bald zu einem vorlaeufigen Schluss
kommen wird. Ich mag nicht mehr durch Mexico und die USA fahren. Ich merkte,
dass ich nach Europa zurueck will. Ich merkte, dass ich an mein Ziel gelangt
bin.
Gruende fuer meinen Entscheid gibt es viele. Von einigen will ich berichten.
Zum Beispiel, dass ich in letzter Zeit manchmal erzaehlte, als ich nach meinem
Reiseziel gefragt wurde, dass ich unterwegs nach Hause sei. Ich sagte dies
ohne zu wissen, dass ich eben innerlich wirklich schon nach Hause wollte.
Die USA und Mexico waeren schlicht der Weg nach Hause gewesen. Wieso also
noch ein Jahr warten, wenn ich sowieso heim will?
In den letzten Monaten war ich sehr muede, immer auf die selben Fragen die
selben Antworten zu geben. Ich will nicht mehr der Pausenclown sein, der
erklaert, wie man das Zelt aufstellt und wie der Kocher funktioniert. Nach
drei Jahren will ich ueber andere Sachen reden und auch mal mit jemandem
laenger und intensiv diskutieren oder einfach bloed spruecheln.
Ich haette in Mexico und den USA bekannte Leute getroffen. Darauf freute
ich mich sehr. Doch irgendwie wollte ich zu diesen Bekannten und wollte gar
nicht mehr umbedingt unterwegs neue Leute kennenlernen. Mir fehlte die Kraft,
neue Geschichten zu erfragen. Das zeigte mir ploetzlich, dass ich ja eigentlich
dauerhafte Bekanntschaften suche. Die sind am moeglichsten in der Schweiz.
Ich mag nicht mehr jeden Abend einen geeigneten Schlafplatz suchen, das Zelt
aufstellen, den Kocher auspacken, das Liegemaetteli ausrollen, um am naechsten
Morgen alles wieder einpacken zu muessen. Ich will wieder einmal eine Wohnung
bewohnen. Diese Haeuslichkeit begann ich zu vermissen. Das war ja sicher mit
ein Grund, wieso ich letztendlich so lange bei Severine in Xela blieb. In
Mexico waere ich sicher auch irgendwo wieder einen Monat oder laenger geblieben.
Doch kann ich dies genau so gut auch in der Schweiz.
Mein Entscheid fiel unerwartet. Ploetzlich traeumte ich vermehrt von der
Schweiz. Ich dachte vermehrt an schweizer Kollegen und an meine Familie.
Irgendwie war ich geistig vermehrt in der Schweiz als in Lateinamerika. Dies
zeigte mir, dass nicht nur Geist, sondern auch Koerper in die Schweiz zurueck
wollen.
Darum bin ich aus Cancun zurueck nach Europa geflogen.
Am 11. August vor fast drei Jahren brach ich zusammen mit Roger Humbel zu
einer Fahrradreise auf. Aus der grob geplanten Reise wurde ein Unterfangen,
wie ich es mir selber nie ertraeumt haette.
Ich wollte ein Jahr unterwegs sein - nun sind es drei Jahre geworden. Ich
wollte bis nach Ecuador fahren - und gelangte bis nach Cuba. Ich wollte an
die 20'000km zuruecklegen - nun wurden es doppelt so viele.
Entscheidende Momente und Begegnungen, die meine Reiseart und mein Reisedauer
beeinflussten, gab es unterwegs viele. Was aber meine Reise grundlegend veraenderte
und dazu fuehrte, dass ich letztendlich bis nach Cuba reiste, waren die beiden
Monate in Uyuni, Bolivien, als ich als Touristenfuehrer bei Colquetours arbeitete.
Der enge Kontakt zu meinen bolivianischen Arbeitskollegen liess mich das
Leben in Lateinamerika ploetzlich von einer neuen Seite sehen. Handelten
bis Bolivien meine Massenmails von Naturerzaehlungen und Erlebnisberichten,
begann ich fortan ploetzlich ueber die Menschen und ihr Leben zu schreiben.
Das Essenzielle meiner Reise waren nicht mehr die gesehenen Berge, Fluesse,
Taeler und Gletscher. Fortan rueckten die Menschen, ihr Leben, ihre Traeume
und Geschichten sowie die politische Vergangenheit der Laender und des gesamten
Kontinentes ins Zentrum meiner Erzaehlungen
Es war auch in Uyuni, als mir eines Abends eine Gruppe Brasilianer erzaehlten,
dass sie in den bolivianischen Bergen das kleine Doerfchen La Higuera besuchten.
Ich erfuhr, dass in diesem Ort Ernesto "Che" Guevara ermordet wurde. Darufhin
beschloss ich, meine Arbeit bei Colquetours zu beenden um nach La Higuera
zu fahren. Als ich erfuhr, dass die sterblichen Ueberreste von "Che" in einem
Mausoleum in Cuba liegen, dachte ich ein erstes Mal daran, nach Cuba zu reisen.
Mein Ziel war fortan immer noch, nach Ecuador zu gelangen. Doch es stand
fest, dass ich anschliessend weiterfahren wuerde - mindestens bis nach Cuba.
Der Weg wurde zum Ziel. Ich wollte wissen und erfahren. Ich suchte nach Wahrheiten
und Gruende. Geografische Ziele hatte ich fortan nur noch, um auf dem Weg
zu den diversen Punkten an die Leute zu gelangen.
Als ich aus Bogota ueber meine Zukunftsplaene berichtete, verglich ich meine
Fahrradreise mit der Motorradreise von Ernesto Guevara und Alberto Granados
im Jahr 1952. Fuer diesen Vergleich wurde ich kritisiert. "Jetzt glaubt er
auch noch, einen kleinen "Che" zu sein", wurde gespottet. In Cuba las ich
zwei Buecher zu Ernesto Guevaras Leben. Besonders interessierten mich dabei
die Schilderungen aus seinem Reisetagebuch waehrend der Motorradreise. Viele
der dort beschriebenen Begegnungen, Gedanken und Eindruecke kamen mir bekannt
vor. Irgendwie erlebte ich in den letzten drei Jahren etwas Aehnliches.
Warum schreibe ich dies? Um zu rechtfertigen, dass ich mich vor einem Jahr
mit "Che" verglichen habe? Glaube ich wirklich, ein "kleiner Che" zu sein?
Ich schreibe es, weil ich etwas erschreckendes feststellen musste - obwohl
50 Jahre vergangen sind, hat sich in Lateinamerika nichts geaendert! Was
Guevara und Granado vor 50 Jahren in Lateinamerika erlebten, wird auch noch
heute ein Reisender erleben, der sich unterwegs fuer das Leben der Bevoelkerung
interessiert.
In Cuba begann ich ploetzlich Vieles zu verstehen. Ich begriff ploetzlich,
in welchem Zusammenhang die verschiedensten geschichtlichen Schilderungen
stehen, die ich waehrend den letzten drei Reisejahren zu hoeren bekam. (Hier
habe ich einen Teil des Mails herausgeschnitten und unten angefuegt, fuer
wer es lesen will.)
Fuer mich waren diese Schilderungen aus all den lateinamerikanischen Laendern
fuer lange Zeit lose Fakten und Daten. Jedem Land schien unabhaengig von
seinen Nachbaren ein aehnliches Schicksal widerfahren zu sein. Erst im Verlaufe
meiner Reise begann ich Zusammenhaenge zu sehen. Loses Wissen begann sich
zu verknuepfen. Als ich in Cuba die ganzen Geschichten aus einem andern Blickwinkel
zu sehen bekam, begann ich zu verstehen. Fuer einmal las ich Buecher, die
die Geschichte nicht aus der Sicht der Industrienationen erzaehlten. Die
Entdeckung Amerikas wird als Eroberung geschildert. "Che" durfte Buecher
nicht nach Peru transportieren, weil sie "rot" gewesen seien. Salvador Allende
war ein guter Freund von Fidel. Arbenz fuehrte Landreformen durch und galt
somit, wie 30 Jahre zuvor schon Argentiniens Praesident Peron, ploetzlich
als Kommunist.
In Cuba schlossen sich ploetzlich viele Kreise. Ich begann meine Reise als
zusammenhaengendes Ganzes zu sehen. Ich begann zu verstehen, wo mich der Weg
ueberall hingefuehrt hat. Ich schien an mein Ziel gekommen zu sein. Ich glaube,
durch die Zeit in Cuba viel verstanden zu haben, was ich ohne diese zwei
Monate nicht begriffen haette. Glaubte ich vor und zu Beginn meiner Fahrradreise
noch an eine schoene und gerechte Welt, wurde ich spaetestens auf meinem
Weg durch Mittelamerika um diese Illusion beraubt. Die Erlebnisse in Mittelamerika
gingen mir tief. Ich mauserte mich zu einem Idelaisten. Ich glaubte und hoffte,
in Cuba ein besseres und gerechteres Leben auzutreffen. Diese Hoffnung liess
mich vorwaertskommen.
In den zwei Monaten in Cuba wurde ich zum Realisten. Es platzten Traeume wie
Seifenblasen. Ich merkte, dass ich nichts vom Land wusste, bevor ich das
Leben eben wirklich mit eigenen Augen sah. Erst als ich mit eigenen Ohren
hoerte, wie es sich dort lebt, merkte ich, wie sehr ich das cubanische Leben
veridealisiert hatte. Ich hoffte, in Cuba Loesungen zu finden fuer all die
Probleme und Beduerfnisse, die ich in ganz Lateinamerika beobachtete. Was
ich aber antraf, waren, anstatt Loesungen, andere Probleme und eben so viele
Beduerfnisse.
Ich suchte unterwegs nach Wahrheiten und Gruenden. Ich wollte wissen und verstehen.
Ob ich unterwegs Wahrheiten gefunden habe, weiss ich nicht. Ich glaube aber,
vieles verstanden zu haben. Meine Erlebnisse ruckten fuer mich die Welt in
ein anderes Bild. Die absolute Wahrheiten wird es wohl nie geben. Was fuer
einen Teil der Menschheit Loesungen sein koennen, stellt fuer einen eben
so grossen Teil ein Problem dar. Ich habe Ansaetze von Gruenden gefunden,
wieso die Welt so ist, wie sie ist. Nun waere es meine Aufgabe zu versuchen,
ein Teil der Welt so zu gestalten, wie ich hoffe, dass sie werde sollte.
Die Zukunft wird zeigen, ob ich mich eines Tages dafuer einsetzen werde.
Nun bin ich also wieder zurueck in Spanien, von wo ich vor fast drei Jahren
zu dieser Reise aufgebrochen bin. Mit Freude bin ich damals gegangen. Mit
Freude bin ich nun zurueckgekehrt. Dazwischen durfte ich viel erleben. Die
drei Jahre waren es Wert, unterwegs gewesen zu sein.
Wie sehen uns bald in der Schweiz!
Gruss Chrigu
Madrid, España
P.S.: Ich wuensch mir was! Wer mir nach so langer Abwesenheit ein Willkommensgeschenk
machen will, der darf das gerne tun. Ich wuensche mir einen Brief oder einen
Text, so wie ich es von meinem Bruder Stefan und von Marian Jasencak erhalten
durfte. (Beides zu finden unter www.schnckentempo.ch - chrigu - texte) Ich
bin gespannt, wie ich vor meiner Reise auf euch wirkte.
Schilderungen:
In Argentinien wurde mir von Peron erzaehlt, der in den 50er Jahren das Land
zu reformieren versuchte. Ich hoerte Schilderungen der Wirtschaftskrise im
Jahr 2001 und bekam mit, wie sich das Land unter der Fuehrung von Praesident
Kirchener langsam neu zu organisieren versuchte. Ich traf Wayra, einen ehemaligen
Guerillakaempfer, der mir von Verfolgung und Folter erzaehlte.
In Chile wurde ueberall von Diktator Pinochet geredet. Ich traf ehemalige
Militaers sowie Regiemgegner, welche die Jahre der Pinochet-Diktatur im Ausland
verbringen mussten. Salvador Allende wurde fuer mich zu einem Begriff, ohne
dass ich richtig verstand, was sein Sturz am 11. Spetember 1973 zu bedeuten
hatte.
In Bolivien wurde mir von Kriegen erzaehlt und ich merkte ploetzlich, wie
zerstritten die einzelnen lateinamerikanischen Staaten untereinander sind.
In Peru wurde mir von der Guerillabewegung "Sendero Luminoso", dem "Leuchtenden
Pfad", erzaehlt. Ich traf unschuldige Opfer, Militaers und ehemalige Guerillaaktivisten.
In Kolumbien begegnete ich Zeichen der FARC-Rebellen, schlief im Nachtlager
bei den Militaers und kam in Kontrollen von autonomen Gruppierungen, den
sogenannten "autodefensas". Dass dieser ganze kolumbianische Konflikt in
Unruhen waehrend den 50er Jahren wurzelt, wurde mir erst in Cuba bewusst.
In Venezuela traf ich viele cubanische Doktoren, Sporttrainer und Lehrer.
Ich erlebte ein Land im Umbruch. Im Land war etwas im Gange, was ich in den
restlichen lateinamerikanischen Laendern nicht entdeckte. Seit sieben Jahren
befindet sich das Land in der "bolivarianischen Revolution", benannt nach
Simon Bilivar, dem grossen Freiheitskaempfer von vor 200 Jahren. Er befreite
den Kontinent vom spanischen Kolonialismus. Er traeumte davon, aus Suedamerika
ein einziges, grosses Land zu machen. Spaetestens als das heutige Bolivien
nach ihm, Simon Bolivar, benannt wurde, begann sein Traum zu platzen und es
entstanden sich bald verfeindet gegenueberstehende Laender, die anfaellig
wurden fuer die heutige Neokolonistaion seitens der USA. Nun hat die "bolivarianische
Revolution" sich zum Ziel gesetzt, den Kontinent ein zweites Mal von einer
Kolonialisierung zu befreien. Einen Teil dieses Prozesse durfte ich miterleben.
Panama erreichte ich am Nationalfeiertag. 1903 hatte sich das Land mit Hilfe
der USA von Kolumbien geloest, womit der Bau des Panamakanals ermoeglicht
wurde. Ich schlief im Quartier der Feuerwehr in Balboa, was frueher zu der
von den USA gefuehrte Administrationzone des Kanals gehoerte. Daneben lag
der stillgelegte Luftwaffenstuetzpunkt Allbrook, den die USA nach dem von
der CIA provozierten Mord am ehemaligen panamensichen Praesidenten Omar Torijos
schliessen mussten.
In Honduras fuhr ich waehrend mehr als 10km am aktuell groessten us-amerikanischen
Militaertstuetzpunkt in ganz Lateinamerika vorbei. Nachdem die USA Panama
verlassen musste, wurde ploetzlich Honduras zum Verbuendeten in Mittelamerika.
Von der Militaerbasis Palmerola aus, diktierte die CIA in den 80er Jahren
die drei Buergerkriege in den Nachbarlaendern.
In Nicaragua, El Salvador und Guatemala, den drei Nachbarlaender von Honduras,
hoerte ich schreckliche Berichte zu diesen Buergerkriegen. Mittelamerikaner
metzelten sich im Interesse der Weltmaechte nieder. Die unterschiedlichsten
Leute erzaehlten mir fast taeglich schwer zu verarbeitende Geschichten. Tragische
Schicksale spielten sich in den letzten Jahren in diesen Laendern ab, von
denen wir in Europa nur gar nichts wissen. Ueberall wurde am Rande auch das
Handeln der USA erwaehnt. In Guatemala wurde 1954 der sozialistische Praesident
Arbenz mit Hilfe der CIA gestuerzt.